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Lost Places
Lost Places Bayreuth: Die Verschwundene Ziegelei
Verfallene Orte, vergessene Ruinen – seit Jahren nimmt das Interesse an sogenannten „Lost Places“ stetig zu. Insbesondere in der jungen Millennial-Generation ist ihr melancholisch-morbider Charme populär. Nur die wenigsten wissen jedoch, dass auch in unserem beschaulichen Bayreuth eine Vielzahl solcher verlassenen Stätten zu finden ist.
Unsere achte Spurensuche beginnt auf Bayreuths weltbekannter Anhöhe, dem Grünen Hügel. Vor knapp 150 Jahren, am 22. Mai 1872, wurde hier der Grundstein für unser berühmtes Festspielhaus gelegt. Was jedoch kaum einer ahnt: Die Ziegelsteine, aus denen es erbaut wurde, stammen tatsächlich von der anderen Mainseite – aus dem im Vergleich dazu praktisch unbekannten Roten Hügel.
Dieser trägt seinen Namen schon seit vielen Jahrhunderten aufgrund der reichen Vorkommen an rotbraunem Lehm. Der Grüne Hügel hingegen wird laut Wolfgang Wagner erst seit den 1960ern so genannt und dies nicht etwa wegen des Züricher Vorbilds, sondern vermutlich aufgrund der damaligen Neuanlage des grünen, waldreichen Festspielparks. Eine namentliche Anlehnung an den älteren Farbhügel liegt hier also nahe – die Suche sowohl nach den buchstäblichen als auch tatsächlichen Ursprüngen der weltberühmten Anhöhe führt uns also hinüber in den Westen der Stadt.
Ziegel der Industrialisierung
Nach dem erst zögerlichen Beginn der Bayreuther Industrialisierung siedelten sich hier am Fuße des Roten Hügels zwei große Ziegeleien an. In der Altstadt entstand bereits 1861 die erste Wölfel-Ziegelei, welche dann ab 1872 in Meyernbergs Süden als Dampfziegelei neu errichtet wurde. Ab 1888 gründete sich nur wenige hundert Meter weiter östlich die Aktienziegelei, die ebenfalls die namensgebenden Lehmvorkommen der Gegend verarbeitete. Während allerdings von zweiterer keine Spuren mehr zu finden sind – in ihren Lehmgruben wurde das riesige Ypsilon-Haus und Vogelsiedlung errichtet – finden wir südlich der Meyernberger Straße heute noch einige Überreste der Wölfel-Ziegelei.
Neben den letzten Fabrikgebäuden steht hier auch noch die alte Wochenendvilla der Industriellen-Familie im markanten roten Ziegelstein-Stil. Das Wirken des Baumeisters Carl Wölfel und seiner Nachkommen hat das Gesicht Bayreuths auf außerordentliche Weise geprägt: Ganze Straßenzüge um Dammallee, Hofgarten und Luitpoldplatz (“Wölfelstraße”) wurden von ihnen errichtet, berühmte Bauwerke wie die Villa Wahnfried, Siegesturm, Liszt-Haus und Neue Spinnerei erbaut – und zeitgleich zum Bau Wahnfrieds lieferte ihre Fabrik ab 1872 auch einen Großteil der Ziegelsteine fürs Festspielhaus, wie Alexander „Sandy“ Wolfrum, der Ururenkel des Ziegeleigründers, bestätigt.
Nach dem Ende der klassizistischen Epoche signalisierte das unverputzte Sichtmauerwerk den Aufbruch in die neue industrielle Ordnung – und die vielen Ziegeleien waren die Architekten dieser neuen Zeit. Unzählige Wohnsiedlungen und Fabrikanlagen, ganze Stadtviertel wie Altstadt und Kreuz, Bahnhofs- und Kasernenviertel und eben auch Wagners Festspielhaus als schmuckloses Theater des Industriezeitalters prägen unser Stadtbild bis heute. Von der Hochindustrialisierung bis zum Wiederaufbau im Wirtschaftswunder – das Jahrhundert der roten Ziegel steht dem Sandsteinantlitz der Barockzeit in nichts nach. Die meisten dieser Gebäude entsprangen dabei dem vergessenen Roten Hügel, bis ab 1970 Plattenbau und Deindustrialisierung einsetzten.
Verschwundene Trassen
Nach Schließung und Abriss der Ziegelei ist hier am heutigen Rübezahl- und Dornröschenweg zum Beginn der 1980er Jahre ein ruhiges und abgelegenes Wohngebiet entstanden. Wenn wir hier entlang spazieren, scheint die tosende Vergangenheit des Ortes unendlich fern. Der Lärm von Dampfmaschine und Ringofen – welcher über Jahre durchgehend bei 1000 Grad den Lehm zu Stein brannte – unvorstellbar! In dieser neuen Märchensiedlung liegt also die alte Ziegelei im Dornröschenschlaf, hier beginnen wir unsere Suche nach der alten Lokomotivtrasse, die den Lehm vom Hügel ins Tal transportierte.
Als erste Überraschung stellt sich heraus, dass der alte Tunnel, der die Meyernberger Straße gleich bei den Altglascontainern unterquert, wohl noch komplett intakt ist. Einen Teil seines Eingangs finden wir ganz unscheinbar vor dem Reihenhaus Nr. 5H, sein gegenüberliegender Ausgang ist sogar noch in voller Größe erhalten. Versteckt hinter Bäumen und Gestrüpp, zugemauert mit den typischen Ziegeln kommt hier gleich schon die intensive Faszination der Lost Places auf: Die Ziegelsteine sind bereits grün vermoost, durch Erosion wurden Baumwurzeln freigelegt, sind Ziegel weggebrochen und ein dunkler Spalt hat sich aufgetan, hinein in den langen leeren Tunnel.
Von hier aus folgen wir dem Fußweg zur Meyernberger Schule, zu unserer Linken begleitet uns ein namenloser Bach, der weit mehr Geheimnisse birgt, als ich anfangs zu hoffen wagte. Als sich hier noch die einstige Dampf- und später Diesellok den Roten Hügel hinauf schlängelte, gab es keinerlei Gebäude oder Wege – wahrscheinlich orientierte sich ihre Trasse daher am Verlauf dieses unscheinbaren Gewässers.
Wir folgen ihm so gut es geht. Geradeaus vorbei an der Schule, bergauf etwas abseits des zugewachsenen Ufers, vorbei an ein paar Feldern bis hin zum oberen Bolzplatz, wo wir als Jugendliche jeden Nachmittag Fußball spielten. Und tatsächlich, hier finden wir den Beweis: Überall im Bach liegen Ziegelscherben, die das Wasser rötlich färben – und damit nicht genug, auf einmal entdecken wir ganze Ziegelschichten rechts neben dem Bachbett, wohl zur Befestigung der heute verschwundenen Trasse.
Seit der Stilllegung der Lok vor über 50 Jahren wurden diese Ziegel von Bäumen überwachsen, von Erde überdeckt und gäbe es nicht diesen kleinen Strom, wäre ihre Spur wohl vollkommen im Erdreich versunken. Mir gelingt es gar, ein paar große Ziegelbruchstücke aus dem Wasser zu fischen, auf denen noch immer der Schriftzug “Gebr. Wölfel Bayreuth” zu erkennen ist. An der östlichen Uferseite des Ziegelbachs finden wir immer mehr Spuren der alten Trasse und folgen ihm daher immer weiter hinauf auf den Roten Hügel.
Als sich der Fußweg im dichteren Wald gabelt, überqueren wir den Bachlauf und wechseln auf seine östliche Seite. Es geht immer steiler nach oben, da erkennen wir in regelmäßigen Abständen auffällige Holzplanken im Boden, auch dies Überbleibsel der alten Lokomotive. Wir erreichen eine weite Lichtung mit einem stark abschüssigen Hang, hinter dem sich auf einmal ein tiefer Graben auftut – die alte Lehmgrube der Wölfel-Ziegelei.
Ende einer Epoche
Hier oben wurde die Lok wohl beladen und wendete dann in einer Gleisschleife über eine markante kleine Ziegelbrücke, um den Lehm dann talabwärts an die Ziegelei zu liefern. Wir treten näher an die tiefe Grube heran, die unmittelbar an das Klinikum – das wohl nicht zufällig in roter Ziegeloptik erbaut wurde – angrenzt und blicken die steile Abbruchkante hinab. In nur wenigen Jahrzehnten sind hier hunderte Bäume aus dem sandigen Grund empor geschossen. Wer hier nicht bewusst nach alten Spuren sucht, wähnt sich einfach in einem idyllischen Stück Wald.
Doch unerkannt und unentdeckt von den meisten Spaziergänger:innen, schlummert hier vielmehr der Ursprung des Festspielhauses, der Ursprung ganzer Fabriken und Stadtviertel – das Gesicht der industriellen Ordnung. Eine Epoche, deren Zeit schon länger zu Ende geht. Der Wald hat sich Gruben und Trassen schon wieder zurückgeholt – es ist endgültig vorbei mit Welt- und Naturbeherrschung.
Florian André Unterburger
Florian André Unterburger ist Autor und Historiker, im Rahmen seines Buchprojekts „Der Zerfall der Alten Ordnung“ hat er seine Leidenschaft für Lost Places entdeckt. Regelmäßig forscht er neuen Spuren des Umbruchs nach. Für das Bayreuther Tagblatt hat er die aufregendsten Spurensuchen zum Nachspazieren niedergeschrieben..