Größter Traum platzt: Bayreutherin leidet unter Olympia-Skandal
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“Natürlich klappt das mit der Teilnahme bei den Olympischen Spielen!” Immer wieder hörte die Hochspringerin Gunda Kämpf, die damals unter ihrem Mädchennamen Gunda Friedrich an den Start ging, im Frühjahr 1936 die aufmunternden Worte in ihrer Familie und auch im Verein. Warum die Mutter der Basketballlegende Schorsch Kämpf, die Leidtragende des wohl – gleich in zweifacher Hinsicht – größten Skandals in der deutschen Sportgeschichte ist, erklärt Hobby-Historiker Stephan Müller.
Na klar, normalerweise dürfen ja nur zwei Teilnehmer pro Nation in Berlin starten. Deutschland darf als Gastgeberland aber drei junge Frauen melden. Warum soll das also nicht klappen?
Die Olympischen Spiele in Berlin fanden von 1. bis 16. August 1936 statt. Dies führte übrigens zu dem Novum in der Bayreuther Geschichte, dass die Festspiele unterbrochen wurden und in zwei Teilen, nämlich vom 19. bis 30. Juli und 18. bis 31. August 1936, über die Bühne gingen. Foto: Bernd-Mayer-Stiftung
Gunda Friedrich qualifiziert sich
Und tatsächlich: Bei der „Auslese“ der olympischen Mannschaft belegte die erst 16-jährige Gunda als deutsche Vizemeisterin Rang zwei. Besser war nur die deutsche Rekordhalterin Elfriede Kaun aus Kiel mit übersprungenen 1,60 Meter. Gunda Friedrich und Dora Ratjen aus Bremen übersprangen bei den deutschen Meisterschaften jeweils 1,56 Meter. Bei der Bewertung dieser Höhen muss man aber bedenken, dass die Sprünge im Scherensprung in eine Sand- oder Sägemehlgrube erfolgten. Bedingung war ein „sicherer Stand“ bei der Landung.
Gunda Friedrich in Aktion. Foto: Privat
Doch es gab noch eine vierte deutsche Spitzenathletin: Gretel Bergmann. Die Ulmerin war knapp 19 Jahre alt, als sie 1933 einen Brief erhielt, dass sie als Jüdin in keinem Sportverein mehr erwünscht sei und an keinem Wettkampf mehr teilnehmen dürfe. Im Herbst 1933 emigrierte sie nach England und siegte 1934 in Anwesenheit ihres Vaters mit 1,55 Metern bei den offenen britischen Meisterschaften im Hochsprung.
Jüdische Sportlerin als Alibi nominiert
Mit der Vergabe der Spiele nach Berlin hatten sich die Nationalsozialisten gegenüber der Völkergemeinschaft verpflichtet, dass alle olympischen Vorschriften eingehalten und die deutschen Juden nicht ausgeschlossen werden. Weil ein Boykott vieler Länder drohte, brauchten die Nazis – wie schon bei den Winterspielen in Garmisch den „halbjüdischen“ Eishockeyspieler Rudi Ball – auch für die Olympischen Sommerspiele jüdische Sportler, um die Diskriminierungsvorwürfe zu entkräften. Neben der bereits nominierten „Halbjüdin” Helene Mayer (Fechten) sollte nun Gretel Bergmann als „Volljüdin“ nominiert werden. Hitler brauchte sie für seine politischen Pläne. Um Deutschland als “weltoffenes und tolerantes” Land zu präsentieren, wurde Gretel Bergmanns Vater gezwungen, dass er seine Tochter aus England zurück nach Deutschland holen sollte. Ansonsten würden der Familie Repressalien drohen. Was blieb Gretel Bergmann anderes übrig? Sie kehrte nach Deutschland zurück und bereitete sich in Ettlingen zusammen mit Elfriede Kaun, Gunda Friedrich und Dora Ratjen in einem Trainingslager auf die Olympischen Spiele vor. Bei einem Wettkampf zwei Wochen vor “Berlin 1936” stellt Gretel Bergmann mit 1,60 Meter den deutschen Rekord von Elfriede Kaun ein.
Die vier Hochspringerinnen Gunda Friedrich, Dora Ratjen, Gretel Bergmann und Elfriede Kaun beim Olympia-Trainingslager 1936 in Ettlingen. Foto: Privat
Aber würde es die Ideologie und der Rassenwahn der Nationalsozialisten wirklich zulassen, dass eine jüdische Sportlerin ganz oben auf dem Treppchen stehen würde? Die Frage beantwortete sich schnell: Am 15. Juli 1936 verließ das Schiff mit der amerikanischen Olympia-Mannschaft die USA, nur einen Tag später, am 16. Juli 1936, wurde Gretel Bergmann durch den Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten von den Spielen ausgeschlossen. Das Datum war sicher kein Zufall: Das Schiff mit dem US-Team war schon ein gutes Stück auf dem Atlantik unterwegs und würde sicher nicht mehr umkehren.
„Sie werden mit einer Aufstellung selbst nicht gerechnet haben“, schreibt der Reichssportführer an Gretel Bergmann und bietet ihr „aufgrund der in letzter Zeit gezeigten Leistungen eine Stehplatzkarte für die Berliner Spiele an.“ Die 22-jährige „Alibijüdin“, die einige Monate später Deutschland endgültig verließ und zu ihrem Bruder nach New York ausreiste, wurde nicht mehr gebraucht. Als offizielle Begründung wurde eine Verletzung gemeldet und das deutsche Team verzichtete aus taktischen Gründen auf seinen dritten Startplatz. Um einen Skandal zu verhindern, wurde Bergmanns Trainer für die Dauer der Spiele “in Schutzhaft” genommen. Nominiert wurden Elfriede Kaun und Dora Ratjen.
Gunda Friedrich. Foto: Privat
Friedrichs Traum von Olympia platzt
Von den ganzen Vorgängen hat Gunda Friedrich nicht viel mitbekommen. Trotzdem ist ihr das alles nicht geheuer, als ihre Teamkollegin plötzlich weg ist. Erklärungen gab es keine, auch nicht, warum nun nicht sie den dritten Startplatz erhält, obwohl Gretel Bergmann “wegen einer Verletzung” passen musste. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, wurde Gunda nicht nachnominiert. So war auch ihr Olympiatraum geplatzt. Sie sei ja erst 16 Jahre alt, würde sich weiter verbessern und ohnehin noch bei zwei oder drei Olympischen Spielen dabei sein. Bei der Mannschaft dürfe sie aber bleiben, hieß es. Später erfuhr sie, dass man Angst vor einer Klage hatte und somit lieber auf einen Startplatz verzichtete. Das Ausland aber war mit der Nominierung der “Halbjuden” – die Florett-Fechterin Helene Mayer holte die Silbermedaille – zufrieden.
Nach einem dreistündigen Hochsprungkrimi, bei dem alle drei Medaillengewinnerinnen 1,60 Meter übersprangen, siegte die ungarische Jüdin Ibolya Csak vor der Britin Dorothy Odam und Elfriede Kaun. Den undankbaren vierten Rang erkämpfte sich Dora Ratjen mit 1,58 Meter.
Gunda Friedrich. Foto: Privat
Das weitere unfassbare Kapitel
In dieser Geschichte gibt es aber – eben um Dora Ratjen – noch ein weiteres, unfassbares Kapitel: Die Bremerin holte sich zwei Jahre später, bei den Europameisterschaften 1938 in Wien mit der fantastischen Weltrekordhöhe von 1,70 Meter die Goldmedaille. Auf der Rückreise wurde die 19-Jährige bei einem Aufenthalt am Bahnhof Magdeburg von einem Polizisten angesprochen. Der Schaffner habe ihm gesagt, dass sie ein Mann sei, der sich als Frau ausgebe. Dora druckste erst ein wenig herum, ehe bei einer eilig durchgeführten Untersuchung beim Polizeiarzt festgestellt wurde, dass sie männliche Genitalien hatte, die während des Wettkampfs nach oben gebunden wurden.
Die Deutsche Sportbehörde für Athletik entzog ihm das Startrecht bei internationalen Wettbewerben. Die Begründung: „Verstoß gegen das Amateurstatut.“ Später erzählte er, dass er zu dieser „Travestie“ gezwungen worden war, um die deutschen Medaillenchancen zu erhöhen. Auch der Weltmeistertitel wurde aberkannt. Dora nennt sich bis zu seinem Tod im Jahre 2008 nun Heinrich Ratjen.
Gunda Friedrich wird Europameisterin
Doch zurück zu Gunda Kämpf, die nach dem Krieg mit dem angehenden Augenarzt Richard Kämpf von Würzburg nach Bayreuth zog: Die Prognose, dass sie sich weiter verbessern werde, ging mit drei deutschen Titeln (1938, 1940 und 1943) und dem Europameistertitel 1940 eindrucksvoll in Erfüllung. In dieser Zeit betrug ihre Bestleistung 1,64 Meter. Aus den Olympiateilnahmen wurde aber bekanntlich nichts: Die Sommerspiele 1940 und 1944 wurden wegen des zweiten Weltkrieges abgesagt, Deutschland und Japan waren von den Olympischen Spielen 1948 in London ausgeschlossen. Bei einem Sportfest im Jahr 1953 siegte sie als 33-jährige, dreifache Mutter noch mit einer Höhe von 1,53 Meter.
Mit 28 Jahren hätte ich 1948 die Qualifikationshöhe für London noch locker gehabt.
(Gunda Kämpf)
Aber sie freute sich über die Erfolge ihrer drei Söhne in den 70er- und 80er-Jahren: Hans, Thomas und Georg sind Leistungsträger der Basketball-Mannschaft des Post SV Bayreuth, die 1976 erstmals in die Bundesliga aufsteigt. Georg wird Nationalspieler und mehrfacher Korbschützenkönig, später Nationaltrainer und Vereinscoach.
Gunda Friedrich. Foto: Privat
Worauf sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 Wert legte: Elfriede Kaun und sie selbst hatten zu Gretel Bergmann, die unter dem Namen Margaret Bergmann-Lambert bis zu ihrem Tod am 25. Juli 2017 in New York lebte, immer ein enges freundschaftliches Verhältnis. Dagegen machte ihr „der Betrug“ um Dora Ratjen schon längere Zeit zu schaffen. Auch wenn sie sagte, dass man “im Nachhinein nur Mitleid mit Dora und ihrer Familie haben kann”, platzte durch diesen Betrug der größte Traum ihrer Sportlerkarriere.
Text: Stephan Müller
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