Das Jahr 1924
Vor genau 100 Jahren wurden die Bayreuther Festspiele nach zehnjähriger kriegsbedingter Unterbrechung fortgesetzt. Die bislang längste festspiellose Zeit war damit zu Ende. Aber die Zeiten hatten sich geändert …
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 hatte eine erste Zäsur in der wechselvollen Geschichte der Bayreuther Festspiele markiert: Nach nur 8 Vorstellungen wurden die Festspiele für die Dauer des Krieges abgebrochen. Das Haus Wahnfried hatte den Krieg indessen zunächst enthusiastisch gefeiert: Siegfried Wagner komponierte umgehend einen Fahnenschwur nach einem Gedicht von Ernst Moritz Arndt, und sein Schwager Houston Stewart Chamberlain verfasste euphorische Kriegsaufsätze. Wagner-Bayreuth wurde zu einem Zentrum der Kriegspropaganda.
Nach der deutschen Niederlage 1918 war die alte Welt des Kaiserreichs jedoch untergegangen. Die Familie Wagner und damit die Festspiele waren durch den Verlust des in Kriegsanleihen angelegten Vermögens und die Inflation finanziell ruiniert, der nationalistische Frust saß tief, die politische Instabilität tat ein Übriges. So wurde die Weimarer Republik in Wahnfried erbittert abgelehnt, der Kriegsgeneral Ludendorff dagegen bewundert. Man war stramm deutschnational, offen antisemitisch, betrieb reaktionären Revisionismus und hing der „Dolchstoßlegende“ an. Der zunächst eher apolitische Ästhetizismus Bayreuths wurde zur zunehmend aggressiven politischen Ideologie.
1923 kam der Wagnerianer Adolf Hitler erstmals nach Bayreuth, besuchte am 1. Oktober das todkranke Idol Chamberlain und schloss Freundschaft mit Siegfried und Winifred Wagner. Fortan wurde er mit freundlichstem Familienanschluss in Wahnfried willkommen geheißen. Chamberlain nannte ihn eine der „seltenen Lichtgestalten“, einen „wahren Volks- und Herzensmenschen“. Auch nach dem Putschversuch im November blieb man mit der dann zunächst verbotenen NSDAP und dem in Landsberg inhaftierten Hitler offen solidarisch, Bayreuth entwickelte sich zu einer „Hochburg der Reaktion“ (Paul Bekker). Wagner und die Festspiele wurden in immer strengeren weltanschaulichen und politischen Dienst genommen und als Projektionsfläche völkischer Propaganda ein geistiges Zentrum der nationalsozialistischen Bewegung.
Die Festspiele 1924 wurden am 22. Juli unter großer Anteilnahme der Bevölkerung mit den Meistersingern eröffnet. Es folgten vier weitere Vorstellungen sowie sieben Mal Parsifal und zwei Ring-Zyklen. Die Ausstattung stammte aus Geldmangel weitestgehend aus dem Vorkriegsfundus. Auch zahlreiche Sänger und Orchestermusiker waren schon 10 Jahre zuvor bei den Festspielen tätig gewesen. Gagen wurden keine gezahlt, lediglich Auslagen erstattet. Die Vorstellungen waren sämtlich ausverkauft, die Nachfrage überstieg das Angebot bei weitem, und es wurden Sonderzüge nach Bayreuth eingesetzt. Insgesamt waren die Festspiele ein Riesenerfolg mit einem Gewinn von 201.582 Reichsmark, mit denen die Hinterbühne erweitert werden konnte.
Das Publikum entstammte vor allem dem reaktionären Großbürgertum, der Industrie und dem alten Feudaladel. Nationalsozialistische Aktivisten und rechtsextreme Akademiker verbanden sich im neuen nationalchauvinistischen und antisemitischen Geist. Fremdsprachen hörte man im Gegensatz zu früher so gut wie überhaupt nicht mehr. Kurt Singer beschrieb das Publikum in den Bayreuther Blitzlichtern im „Vorwärts“: „Feierlich, geschniegelt, Frack, große Toilette, national und konservativ bis ins (Haken-)Kreuz hinein, kritiklos jubelnd, … keine zehn Nicht-Arier im Haus.“ – Siegfried Wagner sprach bei seiner Eröffnungsansprache indessen von „Befestigungsspielen unseres Glaubens an den deutschen Geist“ und bilanzierte in einem Brief an seinen Freund Franz Stassen: „Wir hatten ein prachtvolles Publikum. Eiserne Kreuze in Hülle und Fülle.“
Im Parsifal wurde nun nicht mehr nur nach dem 1. Aufzug geschwiegen, sondern überhaupt nicht mehr applaudiert. Bei der Schlussansprache des Hans Sachs dagegen erhob sich das Publikum und sang nach dem Ende der Vorstellung zum stürmischen Beifall alle drei Strophen des Deutschlandlieds. „Heil“-Rufe waren zu hören. Das war nun selbst Siegfried Wagner zu viel, der meinte „Nach der Götterdämmerung werden sie wohl die Wacht am Rhein singen…“. Er ließ Handzettel verteilen, auf den unter dem Meistersinger-Motto „Hier gilt’s der Kunst“ darum gebeten wurde, auf derartige Kundgebungen im Festspielhaus zu verzichten.
Während der Meistersinger-Dirigent Fritz Busch von der nationalsozialistischen Atmosphäre in Bayreuth befremdet war, erwies sich sein mächtiger Widersacher Karl Muck, der den Parsifal dirigierte, als vollständig linientreu und belehrte Busch, dass rechte Gesinnung in Bayreuth wichtiger sei als künstlerische Qualität. 10.000 Unterschriften für die Freilassung Hitlers wurden gesammelt, auf dem Festspielhaus wehte statt dem schwarz-rot-gold der Republik die Flagge des Kaiserreichs in schwarz-weiß-rot, die Häuser Chamberlains und Wolzogens waren mit Hakenkreuzen geschmückt. So war bereits 1924 der Weg Bayreuths, der Festspiele und der Familie Wagner bis zur folgerichtigen realen Götterdämmerung 20 Jahre später vorgezeichnet.
Dr. Sven Friedrich
zum Autor
Dr. Sven Friedrich
ist Theater-, Literatur- und Kommunikationswissenschaftler. Seit 1993 leitet er in Bayreuth das Richard Wagner Museum mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung, das Franz-Liszt- und das Jean-Paul-Museum.