Thomas Mann zum 150. Geburtstag am 6. Juni 2025
„Leidend und groß, wie das Jahrhundert, dessen vollkommener Ausdruck sie ist, das neunzehnte, steht die geistige Gestalt Richard Wagners mir vor Augen. Physiognomisch zerfurcht von allen seinen Zügen, überladen mit allen seinen Trieben, so sehe ich sie, und kaum weiß ich die Liebe zu seinem Werk, einem der großartig fragwürdigsten, vieldeutigsten und faszinierendsten Phänomene der schöpferischen Welt, zu unterscheiden von der Liebe zu dem Jahrhundert, dessen größten Teil sein Leben ausfüllt, dies unruhvoll umgetriebene, gequälte besessene und verkannte, in Weltruhmesglanz mündende Leben.“
Dieser so typischen Wortkadenz der Sprachmusik Thomas Manns vermag man die Verwandlung der Musiksprache Richard Wagners in dichterische Prosa ebenso abzulauschen wie die Liebe des Dichters zu dessen Wort-Ton-Dramen. Es ist der Beginn eines der bedeutendsten Texte zur quantitativ weiß Gott überbordenden und qualitativ von den größtmöglichen Amplituden gekennzeichneten Wagner-Literatur: Thomas Manns großer Essay über „Leiden und Größe Richard Wagners“ von 1933, in dem sich die leidenschaftliche Ambivalenz seiner Wagner-“Passion“ so vollendet und nachdrücklich niedergeschlagen hat wie wohl in kaum einem anderen Dokument der Rezeptionsgeschichte Wagners. Denn eine Passion ist Thomas Manns lebenslange und kritische Wagner-Aneignung ohne Frage, nämlich sowohl eine Liebes- wie eine Leidensgeschichte im zutreffendsten Doppelsinn des Wortes, darin vielleicht nur der „unsterblichen Wagnerkritik Nietzsches“ ähnlich, die Thomas Mann wie seine eigene als „Panegyrikus mit umgekehrtem Vorzeichen“ empfand. So war er von Wagner stets inspiriert und fasziniert, wie zugleich von dem „schnupfenden Gnom aus Sachsen mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter“ abgestoßen.
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„FÜLLE DES WOHLLAUTS“ – Zum 150. Geburtstag Thomas Manns
Lesung aus dem Roman „Der Zauberberg“ – eingerichtet von Hans-Jürgen Schatz
Müsste dem vollständig Ahnungslosen über alle Einzelfragen und Details hinaus nur ein einziger Text zum Verständnis des Phänomens Wagner, seinem Wesen und Wirken, Leben und Leiden, Genie und Charakter, seiner Faszination und Fragwürdigkeit (und was der ambitioniert alliterierenden Wälsungen-Wortpaare mehr sein könnten) empfohlen werden, – dann wäre es wohl dieser. Ist es jemals besser gelungen, das Wesen Wagners und seiner Kunst mit den Mitteln der Sprache auszudrücken? Gibt es etwas Vergleichbares, das sich seinem Gegenstand in zugleich liebender Zuneigung wie kritischer Distanz, also größtmöglicher Ambivalenz der Leidenschaft nähert?
Thomas Mann darf mithin als exemplarischer Repräsentant jenes kritischen Wagner-Verständnisses gelten, das Wagner in wohltuendem Gegensatz zur Verbohrtheit eines orthodoxen Wagnerianismus und Anti-Wagnerianismus einer hagiographischen Mythisierung ebenso entreißt wie ideologischer Vereinnahmung und Beschränkung, um ihn als herausragendes kulturhistorisches Phänomen ebenso wie seine aktuelle Modernität und kosmopolitische Bedeutung als Weltkulturerbe nicht nur dem eigenen schöpferischen Tun, sondern auch der Mit- und Nachwelt nachdrücklich bewusst zu machen. Durch die tiefgründige Scharfsicht seiner Deutung Wagners wie durch sein kongeniales Nachschöpfen Wagnerscher Tonkunst in der Fülle des Wohllauts seiner kadenzierenden Prosa erweist sich Thomas Mann als einer der vornehmsten Vermittler zwischen den geistigen Welten des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ausgerechnet aber sein gewichtiger Aufsatz über Wagner zog jenen unappetitlichen „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ nach sich, mit dem der Geist des Nationalsozialismus nach der „Machtergreifung“ im eifrigen Konformismus führender Kulturschaffender einen frühen Niederschlag fand und der zum Auslöser für Thomas Manns Exil wurde. Auch nach 1945 und allem Werben des ältesten Wagner-Enkels Franz Wilhelm Beidler und dessen weder unredlichen noch unberechtigten „Bedenken gegen Bayreuth“ zum Trotz konnte sich der Zauberer der deutschen Sprache allerdings wohlweislich nicht entschließen, nach Deutschland zurückzukehren und eine Ehrenpräsidentschaft über das vom Anfang bis zur Gegenwart zwischen Tempel und Fabrik, Pantheon und Irrenhaus durch die Geschichte schlingernde oberfränkische Sommertheater zu übernehmen.
Das Richard-Wagner-Museum ehrt den großen Dichter und Wagnerianer Thomas Mann an seinem 150. Geburtstag eben darum gerade heute an dem Ort, wo Wagners „Wähnen Frieden fand“ und den er darum „Wahnfried“ nannte. Es ehrt ihn auch als erbitterten Gegner Hitlers und des Nationalsozialismus im ersten eigenen und zugleich letzten Wohnhaus des Bayreuther „Meisters“ als indessen nicht nur historisch beladenem locus genii, sondern auch als eine Art Vatikan des Wagnerismus, der zu einem ideologischen Brandherd wurde, auf dessen entfesselten nationalsozialistischen „Feuerzauber“ jedoch 1945 eine Fliegerbombe zurückschlug. Die fast vollständige Zerstörung Wahnfrieds wurde so zum symbolträchtigen Menetekel für die reale „Götterdämmerung“ und den im doppelten Sinne umfassenden Gesichtsverlust Deutschlands, seiner Städte ebenso wie seiner Ehre, diesmal allerdings ohne Proszenium, Orchestergraben und Vorhang.
Seit 1976, hundert Jahre nach den ersten Festspielen von Bayreuth, übt sich das Haus – zum Museum konvertiert – nun im Exorzismus jenes Wahns, der Wagner zu einem seiner geistigen Herolde erklärte und dadurch einen scharfen Keil trieb zwischen ihn und uns. So ehren wir mit dem kritischen Wagnerianer Thomas Mann nicht den Mummenschanz eines faschistischen Faschings, der nicht nur ihm zuwider war, weil er doch vor allem der Mobilisierung des inneren Schweinehunds im Menschen diente, sondern den Geist des „Orpheus alles heimlichen Elendes“, wie Nietzsche nicht umhinkonnte, Wagner noch in der Zeit größter Verachtung zu nennen. So wäre Thomas Mann in seiner schwankenden, stets zweifelnden Zuneigung wohl zugleich geschmeichelt wie befremdet, zu seinem 150. Geburtstag in Wahnfried geehrt zu werden.
zum Autor
Dr. Sven Friedrich
ist Theater-, Literatur- und Kommunikationswissenschaftler. Seit 1993 leitet er in Bayreuth das Richard Wagner Museum mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung, das Franz-Liszt- und das Jean-Paul-Museum.