Notizen aus einem fernen Land
Die Nackten und die Schönen
von Peter Knobloch
Als der Florentiner Humanist Poggio Bracciolini im Jahre 1417 zum ersten Mal in Nürnberg ein Badehaus besuchte, war er überwältigt. „Man hat gesungen und getanzt, und blühende Jungfrauen standen nackend im Wasser, mit schönstem Gesicht und an Gestalt und Sitten Göttinnen gleich.“
Ob er in den Nürnbergerinnen auch noch Göttinnen gesehen hätte, wenn er ihren Dialekt verstanden hätte, lassen wir einmal dahingestellt. Er war jedenfalls angetan, konnte sich aber nicht überwinden, am zwanglosen Treiben teilzunehmen. Dazu war er als Italiener einfach zu g’schamig.
Womit wir bei meinem kürzlich verbrachten Wellness-Wochenende in Meran wären. Das feine 4-Sterne-Hotel war fest in deutscher Hand. Man wellnesste entspannt vor sich hin, freute sich, die Firma rechtzeitig der Frau überschrieben zu haben und genoss die Leichtigkeit des Seins. Die beinah vollkommene Harmonie wurde jedoch immer ein wenig gestört, sobald sich italienische Gäste in den Saunabereich verirrten. So unmittelbar konfrontiert mit teutonischer Nacktheit stand den Italienern ein mittelschwerer Kulturschock ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz zu Poggio nahmen sie am Saunatreiben teil, allerdings in Badeanzug und Badehose. Es spricht für die Toleranz meiner Landsleute, dass sie über diesen Frevel gnädig hinweg sahen.
Vor diesem Hintergrund begreift man erst den landesweiten Herzstillstand, den die schöne Chiara Ferragni unlängst auslöste. Am ersten Abend des Schlagerfestivals in Sanremo, dem größten TV-Ereignis des Jahres, stöckelte die Moderatorin völlig nackt die Showtreppe hinunter. Ihr Dior-Kleid war komplett durchsichtig, zumindest schien es so.
„Ich bin nicht nackt“, beruhigte sie das Publikum unten angekommen, „dieses Kleid ist den Formen meines Körpers nachempfunden. Es ist eine Reproduktion, eine Illusion von Nacktheit.“ Uff! Das war knapp! Illusion von Nacktheit? Genial! Der anfängliche Schock löste sich augenblicklich in Begeisterung auf. Viva la moda! Schein und Sein, das uralte italienische Spiel, bei dem man gerne dem Schein den Vorzug gibt, war wieder um eine Variante reicher.
Poggio Bracciolini beneidete übrigens die Deutschen um ihre Natürlichkeit. „Sie haben sich“, so schrieb er an seine Freunde in Florenz, „etwas bewahrt, was wir bereits verloren haben.“
In diesem Sinne: Twelve points for Germany!
Zum Autor
Seit über 15 Jahren lebt Peter Knobloch in Italien – nicht wegen des Berufs, sondern aus Liebe. Was als privates Abenteuer begann, entwickelte sich zu einer echten Berufung: Menschen für die Schönheit und den Charme Italiens zu begeistern.
Von seiner Heimatstadt San Giovanni Valdarno, nahe Florenz, aus führt er Gruppen durch die schönsten Regionen Italiens ..