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Als wär‘s ein Stück von heute: Nach Tristan
von Kulturbrief.de / Frank Piontek
Zur Uraufführung der Bayreuther Festspiele / Diskurs Bayreuth im „Reichshof“
Als Heiner Müller 1993 bei den Bayreuther Festspielen den Tristan inszenierte, stellte er fest, dass sein Stück Quartett, das er 1980 nach dem berühmten Roman des Choderlos de Laclos geschrieben hatte, eine Art Fortsetzung der Oper wäre. „Gefährliche Liebschaften“: sie sind auch das Thema der Ehekriegstragikomödie Der Totentanz des Seelenzergliederers August Strindberg. Insofern war es naheliegend, zumindest einmal Wagner mit Müller/de Laclos zu konfrontieren; der Strindberg bietet, sozusagen, einen Zusatzhappen – der aus dem Abend „nach Tristan“ eine lustvoll zersetzende Collage über das Unglück der Dauer-„Liebe“ macht.
Wieder sitzen wir im ehemaligen Bayreuther Reichshof-Kino am Markt, in dem nun schon zum dritten Mal, nach der Hochzeiter-Oper und dem Siegfried-Doppelgänger-Drama, die Bayreuther Festspiele zusammen mit dem dazugehörigen Diskurs Bayreuth ihren Theaterplatz einnehmen. Die von Ingo Kerkhof und Gerhard Ahrens textlich zusammengestellte „Reise aus der Vergangenheit rückwärts in die Gegenwart“ (so der Untertitel nach einem Müller-Wort) läuft in spannenden, von Kerkhof kurzweilig inszenierten 90 Minuten über die rohe Bühne, auf der sich Dagmar Manzel und Silvester Groth die Bälle zuwerfen, die selbst dann ein wenig wehtun, wenn sie lächelnd geschmissen werden. Ein Tisch, Koch-Utensilien, eine Ledercouch, sie bilden das äußere Inventar im Leben des Paars, das, vielleicht, gerade im „Tristan“ war, auch wenn sie ihm zunächst die Krawatte bindet und er ihr das Abendkleid zuschließt. Wo die Konventionen einer Boulevard-Komödie auf den Kunstcharakter einer literarischen Collage stoßen, wird‘s anregend: wenn sie und er einige Bruchstücken aus dem Totentanz sprechen, als wär‘s ein Stück von heute, Dagmar Manzel mit einem redundanten „Ist nicht schön. Kann man ja nichts machen, ja“ anhebt, dabei ihre Kartoffelsuppe zubereitet und Silvester Groth einige rätselhaft anmutende „Tristan“-Verse leise vor sich hin spricht, wenn sich die beiden in die so teuflischen wie gebrochenen Figuren Valmont und Marquise de Merteuil verwandeln und doch nicht verwandeln, und wenn der großartige Akkordeonist Felix Kroll seine offensichtlich unausschöpfbaren Tristan-Variationen, mit Kasatschok und Walzer dazu gibt, ahnen wir, dass der Tod und die Liebe, das Ich und das andere Ich, der Spiegel des Selbst und die sog. Ewigkeit vielleicht doch jene zwei Seiten einer Medaille sind, die die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Stoffe des Tristan und der lebensgefährlichen Verführungen verbinden. Man muss sich ja nur einmal vorstellen, welches Seelenleben Wagners Helden (vielleicht) geführt hätten, hätte Tristan sich nicht umgebracht. Ingomar von Kieseritzky hat das vor Jahrzehnten in einem wunderbaren und wunderbar bösen Hörspiel ausgeführt; für Romeo und Julia hat das einst Ephraim Kishon weitergedacht – heraus kam hier eine Komödie, dort ein absurdes Beziehungsdrama.
Manzel und Groth schmeißen sich in die Szenen, travestierend (Groth im Tutu der verführten Unschuld), die Manzel intensivst über den Boden röchelnd, nüchtern und doch von innen glühend, wo es darum geht, die eigenen Gefühle klein- und die anderen zu zerreden oder zu beschweigen; im Schweigen kennt sich ja schon Tristan bestens aus. Wenn nicht‘s mehr hilft im Dauerclinch, rettet die Musik ein paar Minuten; die Manzel singt, fast a capella, und bewegend, nur begleitet von einem hohen, enervierenden, dissonanten Ton, Wagners Treibhaus. Dem Verkleidungsspiel von Mann und Frau geht eines der berühmtesten Chansons der 20er Jahre voraus. Wenn Groth und Manzel Gustaf Gründgens‘ Wie sind wir beide vornehm anstimmen, ist‘s ein Vorspiel zum anschließenden Todesspiel der in den Suizid geschickten Präsidentin de Tourvel (und des Mannes…): was mann und frau halt so macht im Kreis der „eleganten Edelmenschen“.
Der Rest ist eine gegessene Kartoffelsuppe und eine Art von Hoffnung, aber es ist auch eine Wiederkehr: „Hoffen wir‘s Beste. Nun sag schon Ja.“ „Ja, meinetwegen.“ Aus den Figuren der boshaften Grenzüberschreitung werden unversehens wieder brave Durchschnittsleute von heute – aber dass man gesehen hat, wie Sie und Er sich kurz zuvor, in ihren Quartett-Rollen, ewige drei Minuten lang und sehr zart aneinander rieben und doch ängstlich vermieden, sich an den Händen zu fassen: das machte noch die Schlussszene zu einer authentischen Station auf der paradoxen Reise durch Zeit und Raum der drei zitierten Psycho-Welten. Letzte ketzerische Bemerkung: Vielleicht ist es völlig egal, was Dagmar Manzel und Silvester Groth zu sagen und zu spielen haben – wie sie es tun: das ist das Ereignis. Umso schöner, es nach und mit Tristan zu erleben.
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