Wagners Tod in Venedig
Venedig im November. Symbol von Abschied, melancholischer Traurigkeit, Morbidezza, Vergänglichkeit. Vor unwirklicher, nebelsatter Kulisse wird das Kaleidoskop des äußeren bunten Lebens gedämpft, das abrollende Rad der Zeit läuft langsamer – bis zum Stillstand.
Schon seit Beginn seines letzten Lebensjahrzehnts in Bayreuth hatte Richard Wagner immer wieder unter Herzbeschwerden gelitten, die sich zuletzt beängstigend gehäuft und verstärkt hatten. Aber immer wieder erholte er sich…
Nach der Uraufführung des Parsifal am 26. Juli 1882 und den nachfolgenden 15 Vorstellungen hatte Wagner Bayreuth am 14. September verlassen. Zusammen mit seiner Familie und in Begleitung des Malers Paul von Joukowsky, der die Bühnenbilder entworfen hatte, trifft er zwei Tage später in Venedig ein und wohnt zunächst zwei Tage im Hotel Europa, bevor er und seine Familie das Mezzanin im zweiten Stock des Palazzo Vendramin-Calergis am Canal Grande beziehen. – Er sollte Wahnfried nicht wiedersehen…
Am 19. November begrüßt Richard Wagner in der Abenddämmerung und beim Schein der Gaslaternen hier auch seinen Schwiegervater Franz Liszt. Fackeln hatte er aufstellen lassen wollen, diese aber waren nicht zu beschaffen gewesen. Für fast zwei Monate lebt Liszt nun hier. Man sieht sich häufig, redet, spielt Whist, musiziert zusammen. Eine gedämpfte, abgeklärte Melancholie liegt über allem, eine ahnungsvolle Ruhe nach den vielfältigen Stürmen, die das Verhältnis zwischen den beiden großen Künstlerpersönlichkeiten durch nun fast 35 Jahre Leben gepeitscht haben. La lugubre gondola, die „Trauergondel“, ist das enigmatische Bild dieser Zeit, das Liszt wie ein musikalisches Vorzeichen für das, was kommen soll, unter dem Eindruck dieser Wochen in Venedig zu einem seiner späten Klavierstücke formt.
Am Heiligen Abend 1882 findet aus Anlass von Cosimas Geburtstag im Teatro La Fenice noch ein denkwürdiges Konzert statt. Am Ende seines Lebens beschwört Richard Wagner noch einmal seine musikalische Jugend herauf: mit einem Schülerorchester führt er seine C-Dur-Symphonie von 1832 auf, und Liszt spielt zu Ehren Cosimas Klavier. – Am Jahrestag der Vollendung der Parsifal-Partitur, dem 13. Januar 1883, verlässt Liszt exakt einen Monat vor Wagners Tod Venedig.
„Harlekin, du musst sterben!“ – Immer wieder spielt, persifliert und karikiert Wagner in diesen Tagen dieses Lied auf dem Klavier und singt laut und falsch dazu. Am 6. Februar stürzt er sich mit dem Parsifal-Dirigenten Hermann Levi, Joukowsky und den Kindern Isolde, Daniela und Eva in das venezianische Faschingstreiben, kommt erst spät in der Nacht heim und leidet am nächsten Tag an schwerem Unwohlsein.
Am 11. Februar beginnt er mit der Niederschrift eines Aufsatzes über die Emanzipation der Frau mit dem Titel Über das Weibliche im Menschlichen. Am Abend des 12. Februar liest Wagner der versammelten Familie aus Fouquets Märchen Undine vor. Über den weiteren Verlauf des Abends berichtet Cosima: „Wie ich schon zu Bett liege, höre ich ihn viel und laut sprechen, ich stehe auf und gehe in seine Stube: »Ich sprach mit Dir«, sagt er mir und umarmt mich lange und zärtlich: »Alle fünftausend Jahre glückt es!« »Ich sprach von den Undinenwesen, die sich nach einer Seele sehnen.« Er geht an das Klavier, spielt das Klage-Thema »Rheingold, Rheingold«, fügt hinzu: »Falsch und feig’ ist was oben sich freut.« »Dass ich das damals so bestimmt gewusst habe!« – – Wie er im Bette liegt, sagt er noch: »Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe, diesen Sehnsüchtigen.«“
Am Morgen des nächsten Tages, dem 13. Februar 1883, sagt Wagner zu seinem Diener Georg: „Heute muss ich mich in Acht nehmen!“ Am Vormittag kommt es zu einem Streit zwischen Wagner und Cosima, Wagner ist gereizt und lässt sich beim Mittagstisch entschuldigen. Offenbar betraf die Auseinandersetzung die Ankündigung des Besuches von Carrie Pringle, einer jugendlich-schönen Engländerin, die im Parsifal als Soloblume mitgewirkt hatte, und an der Wagner außerordentlichen Gefallen gefunden hatte.
In seinem Arbeitszimmer schreibt Wagner weiter an seinem Aufsatz. Nach den beiden letzten niedergeschriebenen Worten „Liebe – Tragik“ stürzt der Bleistiftstrich steil nach unten ab: Wagner erleidet einen erneuten, diesmal schweren Herzinfarkt. Er zieht heftig die Klingel und verlangt nach Cosima und dem Arzt. Während Cosima herbeieilt, schleppt Wagner sich von seinem Schreibtisch auf das Sofa. Dort schließt Cosima ihn in ihre Arme. Der Krampf scheint sich zu legen, und bald glaubt Cosima, er sei eingeschlafen. Doch als gegen halb vier der Arzt eintrifft, kann dieser nur noch den Tod Wagners feststellen.
Cosima weigert sich bis zum nächsten Morgen den Leichnam loszulassen. Dann wird die Totenmaske abgenommen, die Einbalsamierung durchgeführt und die Überführung nach Bayreuth vorbereitet. Am 18. Februar werden Wagners sterbliche Überreste in der Gruft im Garten des Hauses Wahnfried beigesetzt.
Damit endet die Oper von Wagners irdischem Dasein. Marcel Prawy hat indessen einmal gesagt: „Richard Wagner wurde 1813 geboren – und ist nie gestorben…!“
zum Autor
Dr. Sven Friedrich
ist Theater-, Literatur- und Kommunikationswissenschaftler. Seit 1993 leitet er in Bayreuth das Richard Wagner Museum mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung, das Franz-Liszt- und das Jean-Paul-Museum.