Den Beginn machte, sozusagen pünktlich zum Einzug, das Bläserquintett der Sächsischen Staatskapelle, die am vernieselten Sonntagnachmittag vom Balkon herab vier Arrangements von Festmusiken spielten, die von einer Kurzfassung der 1943 komponierten Festmusik der Stadt Wien von Richard Strauss eingeleitet wurde – womit Dresden (bekanntlich auch einer der bedeutendsten Strauss-Uraufführungsorte), Richard I., der gelegentliche Bayreuther Festspiel-Dirigent Richard III. (wie Strauss sich in Bezug auf Wagner selbstironisch nannte) und Fantasie elegant verbunden wurden. Straussens Festmusik verleugnet trotz oder gerade: aufgrund ihres Gelegenheitscharakters an keiner einzigen Stelle, dass sie das Werk eines Meisters ist; dass man am Sonntag wenigstens ein Drittel davon in einer praktikablen Miniaturbesetzung hörte, war schon bewegend genug – „Gänsehaut“: das meinte Adrian Indlekofer indes, natürlich, erst, als die fünf jungen Leute mit den Wagner-Stücken begannen: dem Parsifal-Vorspiel, dem Einzug der Gäste, Elsas Prozession zur Kathedrale und schließlich dem Meistersinger-Vorspiel. Alberto Antonio López (1. Trompete), Anton Winterle (2. Trompete), Marie-Luise Kahle (Horn), Jonathan Nuß (Posaune) und Constantin Hartwig (Tuba) gehören auf je eigene Weise, als Mitglieder oder Akademisten etc., der Sächsischen Staatskapelle an, die seinerzeit drei Wagner-Opern aus der Taufe hob; die ingeniöse Idee, ein Bläser- und nicht ein Streichquintett als Freiluftmusik nach Fantaisie zu schicken, war naheliegend, aber nicht selbstverständlich (die Streicher kamen eine Woche später: als Innenraummusik).
Dem musikalischen Vorspiel folgte am Mittwoch die (leicht spielerische), vom Wagner-Verband München organisierte Didaxe mit Bayreuther und Münchner Sprecherinnen (Regina Geisser) und Sprechern. In einem Live-Zoom mit eingespielten Musikstücken aus dem Münchner Künstlerhaus bot man eine Stunde Wagner in Fantaisie: mit Cosima Wagner (Birgit Franz) im Mittelpunkt eines viertelszenischen Hörspiels mit Texten aus dem Tagebuch der Frau, die Wagners Tätigkeiten 1869 bis 1883 für die Nachwelt überlieferte. Wer vorher noch nicht wusste, wie intensiv und wie vielfältig – als Komponist, Autor, Dirigent und Probenleiter – Wagner auch im glücklichen Sommer 1872 an seinen musikalischen, schriftstellerischen und architektonischen Werken arbeitete, erfuhr es per Einwahl an diesem Abend.
Schließlich der Höhepunkt – also der Höhepunkt für einige wenige Zuhörer, die das Glück hatten, in einem als Festkonzert überschriebenen Ereignis am Sonntag dem Voyager Quartet zu lauschen. Vier Musiker, elf Zuhörer – mehr geht kaum in diesen kleinen Räumen. Das Voyager Quartet ist in Bayreuth nicht unbekannt; 2020 spielte es in Haus Wahnfried sämtliche Beethoven-Quartette, 2020 wurde am selben Ort eine CD eingespielt: mit bearbeiteten Wagner-Werken. „Recomposed“ nennt der Bratschist Andreas Höricht das, so dass wir die Wesendonck-Lieder, einige Sequenzen aus der Götterdämmerung und dem Parsival hören (so, auf den mittelalterlichen Stoff anspielend, nennt der Bearbeiter das). Nur das Tristan-Vorspiel bleibt von Eigentönen unangetastet; es klingt hier filigran wie ein Gespinst aus Seidenfäden. Radikal aber gehen Nico Christians, Maria Krebs, Andreas Höricht und Klaus Kämper mit Wagners letzten beiden Musikdramen um. Die Partitur wird zum Steinbruch für Collagen und Übermalungen, wie sie Wagner selbst mit Hilfe seiner eigenen Erinnerungstechnik praktiziert hat, also für Neukompositionen, die im „Ton“, wie Alban Berg das genannt hat, und in ihrer expressiven Gespanntheit ein wenig an die Wiener Schule eines Arnold Schönberg erinnern. Ab dem Vorspiel zum dritten Parsifal-Akt bewegen wir uns in einer notengetreuen, dann in einer verkürzten Version des Finales, in dem die Schroffheiten von Parsifals Wanderung durch die Öde rasch und luftig aufgelöst werden. Die emotionale Dichte wird in den kleinen Räumen noch deutlicher, als sie es eh schon ist.
Was hat Beethoven mit Wagner zu tun? Bekanntlich eine ganze Menge. Was haben die Streichquartette mit Wagner zu tun? Nicht wenig. Wagner schätzte einige reife Werke des Komponisten, benutzte sie gar als Inspiration für seine moderne Kammermusik zumal im Tristan. Wenn das Voyager Quartet, vor Richard und Cosima Wagners einstigem Donndorfer Bett sitzend, das Rasumowsky-Quartett op. 59/1 spielt, erklingt in F-Dur eine Hommage an Wagner, die zu ihrer Zeit genauso neu wirkte wie später Wagners Musik. Als Ignaz Schuppanzigh das Quartett einstudierte, sagte Beethoven den berühmten Satz: „Meinen Sie, ich hätte an Sie und Ihre elenden Saiten gedacht, als der Geist zu mir sprach?“ Der Klavierlehrer und Etüdenkomponist Carl Czerny berichtete, dass sich die Spieler der Uraufführung über die Musik lustig machten, weil sie glaubten, dass sich der Komponist einen Scherz mit ihnen erlaubt habe. Beethoven selbst meinte dem Musiker Felix Radicati gegenüber, dass er diese Quartette nicht für ihn, sondern für die Zukunft komponiert habe. Der Musikphilosoph Theodor W. Adorno konnte daher beim Adagio von „Melodien wie unter Deckblättern“ sprechen und den Auftritt des unharmonisierten russischen Themas mit der folgenden Harmonisierung als Verstellung eines Charakters interpretieren. Im Adagio entdeckte er schließlich, im Sinne der Aufklärung, den Ausdruck einer „aufgehenden Hoffnung“. Was wir am Abend hörten, war eine klassische Hausmusik – eine Hausmusik auf jenem Niveau, das Beethoven von seinen Musikern erwartet hat.
Dass in einer Art Festwoche drei Veranstaltungen den Genius loci von Fantaisie beschworen, und dass die Musiker – das Quintett wie das Quartett – mit großer Lust und Kompetenz eine Festmusik machten, gibt durchaus Anlass zur Hoffnung: dass die Wagner-Möbel nach wie vor an dem einzigen geeigneten Ort öffentlich zu sehen sein werden, und dass auch zukünftig noch in und an Wagners einziger unzerstörter Wohnung, die an seine Zeit in Bayreuth erinnert, passende und dem Ort würdige Kulturveranstaltungen möglich sein werden. Es muss ja nicht der mucksmäuschenstille örtliche Wagner-Verband sein, der das Ganze dann zusammen mit dem mäzenatisch orientierten Besitzer zur Freude der Einwohner und Gäste macht – die Wagnerstadt München macht das Dank des privaten, aber für die Öffentlichkeit agierenden Wohnungsbesitzers und des zusammenarbeitenden Vorsitzenden schon sehr gut.