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Gesellschaft

“Merkel hat viel Energie aus der Politik gezogen”: Demo bei Habeck-Besuch in Bayreuth – eine Nachbetrachtung

Sind wir politischen Protest noch gewohnt? Welche Formen nimmt er an? Vor dem Hintergrund des Besuchs von Minister Robert Habeck in Bayreuth stellte das bt diese und andere Fragen einem Professor der Politikwissenschaft.

Vor Kurzem kam Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zu Besuch nach Bayreuth. Im Zuge dessen fand auch ein Bürgerdialog im Ehrenhof statt, bei dem es zu lautstarken Protesten kam. Einen Tag später stellt das bt nicht nur einen Artikel zu diesem Thema online, sondern auch eine Umfrage auf Facebook, die für Wirbel sorgte.

Vor diesem Hintergrund stellte das bt einige Fragen an Prof. Dr. Andreas Jungherr, Inhaber eines Lehrstuhls für Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, um eine fundierte Einschätzung zu den Fragen des politischen Protests und den Formen zu erhalten.

Formen des politischen Protestes: Retrospektive zum Besuch von Minister Habeck

Mit Pfiffen, Rufen und Plakaten demonstrierten zahlreiche Mitbürger im Ehrenhof. Das Spektrum des Protestes reichte dabei von klassischem Protest mit Buhrufen bis hin zu drastischen Plakatsprüchen. In der folgenden Ja/Nein-Umfrage des bt bei Facebook – “Ich finde die Reaktionen angebracht” / “Ich schäme mich” – befand eine sehr deutliche Mehrheit von rund 9.000 Nutzern den Protest als angebracht. In rund 2.000 Kommentaren trafen dann die verschiedenen Meinungen aufeinander.

Mit dem Wissen, dass eine solche Umfrage einerseits bedingt aussagekräftig ist, andererseits die Aufarbeitung von Ereignissen jedoch wichtig für das Verstehen von Vorgängen ist, hat das bt Professor Jungherr um eine Einschätzung aus einer wissenschaftlichen Perspektive gebeten. Lesen Sie auch: Minister Habeck spricht in Bayreuth über auch über die Energiepreise.




“Man geht ja wo hin, um ein Statement zu setzen”

Gleich zu Beginn des Gesprächs mit Professor Jungherr stellte dieser klar, dass Protest bei politischen Veranstaltungen völlig normal sei und es Kundgebungen schon früher gab. “Man geht ja wo hin, um ein Statement zu setzen”, sagte Jungherr. “Angela Merkel hat viel Energie aus der Politik rausgezogen”, so der Professor weiter, deshalb sind wir diesen Protest gar nicht mehr so gewohnt. Politiker wie Robert Habeck bieten mehr Angriffsfläche.

Die Frage nach der Art des Protestes ist jedoch eine andere. Radikalisierung und Systemablehnung – und ebenso die daraus folgende Ablehnung von Politikern – muss im Blick behalten werden und kann Anlass zur Besorgnis sein, so der Politikwissenschaftler. Dabei ist ganz klar nicht der Protest gegen politische Entscheidungen an sich ein Problem, dieser gehört zum demokratischen Prozess, sondern die komplette Ablehnung des staatlichen Systems und damit der Personen, die es vertreten.

Krisen und Gruppendynamik

Die beständige Konfrontation mit Krisen wie Klima, Corona, Energie und Krieg setzen die Menschen unter Druck. Manche fordern vom Staat alles bis ins kleinste Detail zu regeln, andere nur teilweise und wieder andere lehnen jegliche staatliche Regulierung ab. Das Spannungsfeld ist groß und wurde, durch die staatlichen Eingriffe in das Leben der Menschen in diesen turbulenten Jahren, noch größer und sichtbarer.

Im Dschungel der Gruppierungen, Strömungen und Meinungen gilt es aber, klar zu unterscheiden, ob es sich um eine Gruppe handelt, die grundlegend den Staat ablehnt oder um eine Gruppe, die Entwicklungen und Eingriffe nicht gut heißt. Viele Menschen sind verunsichert, haben Angst oder fühlen sich hilflos. Auch hieraus kann eine gewisse radikalere Einstellung entstehen, die aber nicht zwangsläufig eine Ablehnung des Staates ist. Kompliziert wird es, wenn zwischen diesen beiden Gruppen – ob gewollt oder ungewollt – Allianzen entstehen und die Trennschärfe verloren geht.

Als ein konkretes Beispiel für die Ausführungen des Politikwissenschaftlers kann hier sogar die Facebook-Umfrage verwendet werden: Nimmt man die große Gruppe all jeder, die diesen Protest gut fanden, so wird nicht ersichtlich, aus welchem Grund sie das tun. Ist es, weil sie mit den politischen Entscheidungen nicht zufrieden sind? Ist es, weil sie Herrn Habeck oder die Partei der Grünen nicht mögen? Oder ist es, weil sie den Staat ablehnen? Die Problematik der fehlenden Trennschärfe und damit auch die Möglichkeit, auf die Gründe des Protestes einzugehen wird hier sehr deutlich.

Internet, Social Media und die Fülle an Informationen

In Bezug auf die Umfrage des bt erklärte Jungherr, dass er dieser keine aussagekräftige Bedeutung beimessen würde, weil die Fragestellung eine performative – vereinfacht gesagt: schwarz/weiß – sei. Das Problem hierbei ist, dass diese Umfrage landesweit Menschen der unterschiedlichsten Gruppierungen erreicht, die zum Teil sehr gut vernetzt sind. So entstehen bei dieser Art der Umfrage, also auch unabhängig von unserem konkreten Facebook-Fall, Stimmungsbilder, die unter Umständen bestimmte Meinungen überdeutlich hervorheben.

“Ich glaube, dass das Internet eine wesentliche Rolle spielt”, so Jungherr, wenn es um das Zusammenfinden von Gruppen geht. Dies gilt im Speziellen für die sozialen Medien. Im Positiven wie im Negativen. Auch die Bandbreite an verfügbaren Informationen und Meinungen ist enorm. Jeder kann zu einem Thema recherchieren, doch nicht alle auffindbaren Seiten wollen sachlich informieren. So kann es passieren, dass sich verunsicherte Menschen leiten lassen und im extremsten Fall sich radikalen Gruppierungen anschließen.

Welche Streitkultur und Form des Protestes wollen wir?

Dass sich die Politik Widerspruch und Kritik stellen muss, sei klar und wichtig, hebt Jungherr am Ende des Gespräches mit der Redaktion hervor. Die Frage ist allerdings, in welcher Form das geschieht.