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Lost Places
Lost Places Bayreuth: Der Letzte Turm
Verfallene Orte, vergessene Ruinen – seit Jahren nimmt das Interesse an sogenannten „Lost Places“ stetig zu. Insbesondere in der jungen Millennial-Generation ist ihr melancholisch-morbider Charme populär. Nur die wenigsten wissen jedoch, dass auch in unserem beschaulichen Bayreuth eine Vielzahl solcher verlassenen Stätten zu finden sind.
Unsere vierte Spurensuche führt uns diesmal in das alte Industrieviertel rund um den Bayreuther Hauptbahnhof. Heute weitgehend vergessen, lag hier mehr als ein Jahrhundert lang das industrielle Herz der Stadt. Diese Standortentscheidung jedoch war damals hochumstritten – eigentlich stand nämlich bereits fest, dass der lang ersehnte Bahnhof in Innenstadtnähe an der heutigen Kanalstraße gebaut werden soll.
Erst auf massiven Druck der Industrie hin, insbesondere durch die Rohrzuckerfabrik Theodor Schmidts in St. Georgen, entschied man sich 1853 dann letztlich doch für den jetzigen flutgeschützten Standort vor den Toren ebenjener Vorstadt. Hier konnte man schnell an ihre barocke Manufakturtradition anknüpfen und noch bevor das erste Bahnhofsgebäude fertiggestellt wurde, nahm die neu gegründete Mechanische Baumwollspinnerei – direkt nebenan und mit eigenem Gleisanschluss – schon 1855 den Betrieb auf.
Industrielle Revolution
Endlich angeschlossen an das eiserne Netz folgten dann rasch weitere Fabrikgründungen in der ganzen Stadt, wie die Gasfabrik 1855, die Wölfel-Ziegelei 1861 und die Aktienbrauerei 1872. Vor allem aber die florierende Textilindustrie entwickelte sich schnell zu Bayreuths Wirtschaftsmotor – die “Mechanische” expandierte schon bald und dehnte sich ab 1886 mit einer Weberei auch weit über die Markgrafenallee hinaus aus. Nur einen Kilometer weiter westwärts entstand dann im Jahr 1889 die Neue Baumwoll-Spinnerei am heutigen Nordring und 1894 siedelte sich schließlich die Spinnerei Bayerlein in unmittelbarer Nachbarschaft an der heutigen Casselmannstraße an.
Nun war die Industrielle Revolution auch in Bayreuth angekommen. Während sich das neue Industriebürgertum endlich mit dem Adel auf Augenhöhe sah und zur Repräsentation von Macht und nationalem Stolz seine Fabriken und Villen als Schlösser und Burgen bauen ließ, wurden große Teile der Landbevölkerung entwurzelt, in die wachsenden Städte getrieben und als lohnabhängige Arbeiter:innen in eine moderne Form der Leibeigenschaft gedrängt.
Der Zuzug steigerte sich jedes Jahr und um das Industrieviertel herum bildeten sich bald die neuen Arbeiterquartiere Hammerstatt, Neuer Weg und Burg. Letzteres – wahrscheinlich stand hier im Mittelalter tatsächlich ein solch namensgebendes Herrschaftshaus – beherbergte zwar schon ab 1861 die erste Sozialsiedlung Bayerns und auch die meisten Bayreuther Industriellen zeigten sich relativ fortschrittlich in Sachen Armutsfürsorge, doch im Kontrast zu den existenziellen Umwälzungen blieb dieser soziale Pragmatismus nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Zwischen 1840 und 1900 verdoppelte sich die Bevölkerung Bayreuths auf knapp 30 000 Einwohner:innen und der gesellschaftliche wie wirtschaftliche Boom setzte sich auch im neuen 20. Jahrhundert ungebremst fort. 1900 entstand das erste Elektrizitätswerk, 1910 das Franka-Kamerawerk und im gleichen Jahr ebenfalls die Schokoladen- und Zuckerwarenfabrik in St. Georgen. Und trotz dieser lang andauernden Blüte sind von den meisten Industriebetrieben jener Zeit nur noch wenige Spuren übrig.
Kriegswirtschaft und Wirtschaftswunder
Hier zwischen den Bahngleisen und der Markgrafenallee, wo die “Mechanische” einst qualmte und krachte, stehen wir nun auf einem provisorisch befestigten Parkplatz – und vor uns ragt noch immer der ziegelrote Wasserturm hinauf in den blauen Himmel. An seinem Hang, versteckt hinter Büschen und Gestrüpp, stoße ich zu meiner Überraschung auf die Überbleibsel der Außenmauer eines längst verlorenen Spinnereigebäudes. Und auch in Richtung Gleisbett liegen weitere Ziegel-Trümmerhaufen verstreut herum. Sogar die Reste des alten Gleisanschlusses kann man im Boden direkt vor den Werkshallen noch erkennen. Mehr ist von diesem imposanten Fabrikkomplex nicht geblieben.
So wie einst die mittelalterliche Burg, ist nun auch die moderne Industrieburg fast spurlos verschwunden – bis auf ihren Wasserturm. Einsam wacht er auf seiner Anhöhe über dieses Niemandsland, war stummer Zeuge von Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit, von Aufrüstung und Zerstörung. Wir laufen Richtung Tunnelstraße und können die Schrecken nur ahnen, die er gesehen hat.
Im nationalsozialistischen Kriegswahn spielten die Spinnereien eine furchtbare Schlüsselrolle und hier im großen Hauptgebäude der “Mechanischen” wurden ab 1943 nachweislich Zwangsarbeiter:innen aus Süd- und Osteuropa zur Waffenproduktion gezwungen. Sie durften bei Fliegeralarm nicht mit in den Luftschutzkeller, sondern mussten unter den Bahngleisen in der Tunnelstraße Deckung suchen. Am 5. April 1945 geschah dann der Horror genau hier in dieser Unterführung; vom Bombenhagel getroffen starben Dutzende von ihnen und wurden in einem Massengrab auf dem Stadtfriedhof verscharrt.
Beklommen folgen wir geradewegs der Carl-Schüller-Straße bis zur Eduard-Bayerlein-Straße – den Erbauern der Neuen bzw. der Bayerlein-Spinnerei – und auch hier sind fast alle Spuren der früheren Textilschlösser getilgt. Einzelne Backsteingebäude stechen zwar dem noch ins Auge, der weiß, wonach er sucht, doch ansonsten dominieren das ehemalige Bayerlein-Areal heute vor allem ein Kongresshotel und die Arbeitsagentur. Ab 1944 mussten auch hier hunderte Zwangsarbeiter:innen aus ganz Europa in der Rüstungsproduktion schuften.
Am meisten ist noch von der Neuen Spinnerei übrig geblieben, aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich gut an die leerstehende Ruine und ihre zerbrochenen Fenster. Heute hingegen strahlt der ehemalige E-Bau modern saniert im Sonnenlicht und wird für Handel und Dienstleistungen vielfältig genutzt – doch auch hier ist der Großteil des einstigen Fabrikgeländes dem TÜV und mehreren Großmärkten gewichen.
Und auch hier gab es Zwangsarbeit, ab 1944 wurde auf dem Gelände des heutigen Baumarkts sogar ein Konzentrationslager eingerichtet, dessen Häftlinge ebenfalls zur Rüstungsforschung gezwungen wurden. Wir queren das Areal bis wir auf den Nordring treffen, seit ein paar Jahren findet sich hier zwar ein kleiner Gedenkstein am Straßenrand, doch es fehlt an öffentlicher Erinnerung, Es ist erschreckend, dass all diese Verbrechen kaum bekannt sind.
Zerfall der industriellen Ordnung
Trotz der Gräueltaten und Kriegszerstörungen nahmen alle Spinnereien ihren Betrieb in der Nachkriegszeit zügig wieder auf und trugen so ihren Teil zum Wirtschaftswunder bei – doch nach zwanzig Jahren Nachkriegsboom fing die Industrielle Ordnung langsam an zu bröckeln. Bereits 1956 musste die Schokofabrik schließen, das Franka-Kamerawerk folgte 1967 und die Wölfel-Ziegelei 1971. Zwar hielten die Textilgiganten noch etwas länger durch, doch gegen die aufziehende Globalisierung waren auch sie chancenlos. 1979 gab als erstes die Spinnerei Bayerlein auf, bis 1981 waren dann fast alle Betriebsstätten – darunter auch die Sozialsiedlung Burg – der “Mechanischen” stillgelegt und verkauft und schließlich erwischte es dann Ende 1991 auch die Neue Spinnerei.
Einzig der Wasserturm, der letzte Turm einer fast vergessenen Industriegeschichte, trotzte dem Zerfall und thront hier noch immer, mittlerweile über das postmoderne Landratsamt. Erbaut als Burgfried des nationalen Aufbruchs, in seiner Fassade Einschusslöcher des Krieges, auf dem Dach noch der Betonsockel des Flakgeschützes, wurde dieses Mahnmal von Aufstieg und Fall in den 90er Jahren zum Mobilfunk-Sendeturm umgerüstet und ist somit nun auch Teil der nächsten, der digitalen Revolution.
Ende letzten Jahres wurde mit Webatex schließlich die benachbarte Weberei von 1886 und damit das Kapitel der Bayreuther Spinnereien endgültig geschlossen. So viele vergessene Orte, so viel Licht und noch mehr Schatten dürfen jedoch nicht vergessen bleiben. Eineinhalb Jahrhunderte Industrialisierung verdienen mehr als nur Abriss oder Sanierung. Von Brauerei bis Ziegelei, von Spinnerei bis Schreibmaschine – die Zeit ist reif für ein Industriemuseum.
Florian André Unterburger
Florian André Unterburger ist Autor und Historiker, im Rahmen seines Buchprojekts „Der Zerfall der Alten Ordnung“ hat er seine Leidenschaft für Lost Places entdeckt. Regelmäßig forscht er neuen Spuren des Umbruchs nach. Für das Bayreuther Tagblatt hat er die aufregendsten Spurensuchen zum Nachspazieren niedergeschrieben..