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Lost Places
Lost Places Bayreuth: Altenstadt an der Mistel
Verfallene Orte, vergessene Ruinen – seit Jahren nimmt das Interesse an sogenannten “Lost Places” stetig zu. Insbesondere in der jungen Millennial-Generation ist ihr melancholisch-morbider Charme populär. Nur die wenigsten wissen jedoch, dass auch in unserem beschaulichen Bayreuth eine Vielzahl solcher verlassenen Stätten zu finden ist.
Unsere fünfte Spurensuche führt uns diesmal in die Bayreuther Altstadt und wie Ortskundige wissen, ist damit keinesfalls die historische Innenstadt gemeint. Diese bereits mittelalterliche Siedlung war auch nie eine Stadt, sondern ein “alte Stätte” genanntes Dorf und wie ihr Name bereits ahnen lässt, liegen hier tatsächlich die Ursprünge der neuen Stätte Bayreuth.
Hierbei spielt allerdings die Mistel und nicht etwa der Main die entscheidende Rolle. Dieser unscheinbare Zufluss, welcher im Landkreis bei Hummeltal entspringt und unweit der Innenstadt in den Roten Main mündet, lag damals nahe dem Schnittpunkt zweier historischer Handelsstraßen, die sich auf der Anhöhe des Roten Hügels kreuzten.
Vergessene Straßen
Diese sogenannten Altstraßen bestehen schon seit mehr als einem Jahrtausend und wurden zumeist als Höhenwege auf geografischen Erhebungen angelegt. Während sich einige von ihnen heute gar zu Autobahnen oder Bundesstraßen gewandelt haben, gerieten andere in Vergessenheit. Die Verläufe dieser vergessenen Straßen jedoch, die stets weit älter sind als die sie umgebenden Städte, können vielerorts heute noch zu Fuß erkundet werden.
In Bayreuth dürfte insbesondere die Hohe Straße, auf dem Bergrücken des Roten Hügels zwischen Eckersdorf und Oberpreuschwitz, vielen ein Begriff sein. Einst führte diese Altstraße von Bamberg durch das Fichtelgebirge bis nach Böhmen, ein Teil dieses Straßenzugs – von der heutigen Preuschwitzer Straße durch den Stadtteil Kreuz, über den Marktplatz bis nach Laineck und Seulbitz – hat die Jahrhunderte überdauert und ist als Verkehrsweg noch intakt.
Der historische Geseeser Weg hingegen – von Süden aus Nürnberg und Pegnitz kommend, über Creußen und Schreez, Gesees und die Saas, die uralte Jakobstraße entlang und schließlich in der Altstadt über die Mistel und weiter über den Roten Hügel nach Heinersreuth ins Maintal Richtung Kronach – ist als Fernweg über den Saaser Berg gänzlich vergessen, vor allem der Abschnitt in der Altenstadt.
Wer würde denn schon die kleine St.-Nikolaus-Straße und die schmucklose Brücke über die Mistel als Spur eines jahrtausendalten Handelswegs erkennen? Doch tatsächlich war die Strecke so bedeutsam, dass hier an dieser Furt am Fuß des Roten Hügels um das Jahr 1000 eine Nikolauskirche als Mittelpunkt einer Siedlung gegründet wurde.
Und auch der Namenspate ist kein Zufall, denn der heilige Nikolaus bzw. Nikolai galt seit jeher als Schutzpatron des Handels und der Seefahrt. In ganz Mitteleuropa wurden Nikolaikirchen entlang des entstehenden Fernhandelsnetzes erbaut und die hiesige war zu dieser Zeit die einzige Pfarrei auf dem heutigen Bayreuther Stadtgebiet.
Wälle und Weiher
Irgendwann zur Mitte des 12. Jahrhunderts wurde dann im weiteren Verlauf der Hohen Straße, um den langgestreckten Markt herum, eine neue Stätte gegründet und fortan Bayreuth genannt. 1194 wird die Stadtkirche als Tochter der Altstädter Nikolauskirche geweiht und 1231 wird Bayreuth erstmals als “Civitas” erwähnt – die neue Stadt hat der alten Stätte spätestens hier schon den Rang abgelaufen.
Im Zuge der Reformation beschleunigte sich diese Entwicklung noch: Nach Auflösung der Nikolauskirche 1525 wurden ab 1557 erst ihre Kanzel und Betstühle an Stadt- und Spitalkirche abgegeben und 1571 gar die Steine der Kirche für den Bau der Lateinschule, dem heutigen Stadtmuseum, abgetragen. Zuletzt wurde 1595 dann nach sechs Jahrhunderten die letzte Kirchenmauer beseitigt – außer dem Gedenkstein findet sich hier am alten Dorfmittelpunkt, dem Kirchhügele, heute keinerlei Spur des ältesten Gotteshaus Bayreuths mehr.
Von hier spazieren wir Richtung Südosten und biegen rechts in die Wallstraße ein, auch hier verrät der Name, dass die alte Stätte früher zumindest eine kleine Befestigung hatte. Am Ende der Straße, dort wo sich heute der Schulhof der Altstadtschule befindet, lag einst der Hirtenweiher, einer von vielen historischen Teichen zur Fischzucht. Die kleine Altenstadt war umgeben von einer riesigen idyllischen Weiherlandschaft – sowohl der Bindlacher als auch der Pechhüttner Weiher, die beide ebenfalls von einem künstlichen Abzweig der Mistel gespeist wurden, würden heute ganze Wohngebiete verschlingen.
Leider findet sich auch von diesen Gewässern keine Spur mehr. Der Bindlacher Weiher wurde 1746, zur Zeit des Markgrafenpaars Friedrich und Wilhelmine, trockengelegt – um auf seinem Damm, dem heutigen Freiheitsplatz, eine neue Chaussee anzulegen: Von Bayreuth kommend, entlang des Stadtfriedhofs, dann südlich der Altenstadt über einen Ernteweg und hoch nach Meyernberg und Eckersdorf. Diese komfortable Chaussee ersetzte die buckelige Hohe Straße als Verbindungsweg nach Bamberg (“Bamberger Straße”) und Erlangen (“Erlanger Straße”) und bereitete den Boden für das Zusammenwachsen der alten und der neuen Stätte.
Ziegel und Gleise
Von der Wallstraße aus folgen wir rechter Hand dem Gartenweg, dessen uralte Fundamente unseren Blicken leider verborgen bleiben. Die vielen roten Ziegelbauten jedoch, die das ganze Viertel heute maßgeblich prägen, erzählen von seinem rasanten Aufstieg. Während im hundertjährigen Schlaf auch hier in der Altenstadt wenig passiert ist, veränderte sich mit der Industrialisierung auf einen Schlag alles. Auf die Eingemeindung nach Bayreuth 1840 folgte die Gründung von Brauereien und Fabriken wie Glenk 1852 und die erste Wölfel-Ziegelei 1861 – zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Einwohnerzahl bereits von 300 auf 2000 vervielfacht.
1904 eröffnete dann der Altstädter Bahnhof mit Gleistrassen nach Hollfeld und Thurnau, 1908 das öffentliche Altstadtbad und immer wieder gründeten sich neue Vereine, wie auch die berühmte Spielvereinigung zu Beginn der 1920er Jahre – aus dem uralten Dorf wurde ein einflussreicher Arbeiter:innenbezirk. 1921 wurde um den ehemaligen Eichelacker, heute August-Bebel-Platz, eine Kriegsbeschädigten-Siedlung in modernen Formen errichtet und auch nach dem Zweiten Weltkrieg schossen weiterhin neue Wohngebiete und Hochhäuser aus dem Boden. Die einstigen Weiher und Felder sind mittlerweile durchgehend bebaut, fast wirkt die alte Stätte heute wie ein ganz normaler Stadtteil.
Doch hinter ihrer Backsteinfassade, in den Namen und Verläufen ihrer alten Straßen, sind die Spuren eines ganzen Jahrtausends versteckt. Unser Spaziergang endet nun hier an dieser unscheinbaren Brücke über die Mistel, hier an dieser vergessenen Handelsstraße, wo alles begonnen hat. Könnte man diese Anfänge und Umbrüche nicht sichtbarer machen? Könnte man ihre Spuren und Wege nicht wieder in Erinnerung rufen? Dann wäre die historische Altenstadt an der Mistel vielleicht irgendwann kein ganz so verlorener Ort mehr.
Florian André Unterburger
Florian André Unterburger ist Autor und Historiker, im Rahmen seines Buchprojekts “Der Zerfall der Alten Ordnung” hat er seine Leidenschaft für Lost Places entdeckt. Regelmäßig forscht er neuen Spuren des Umbruchs nach. Für das Bayreuther Tagblatt hat er die aufregendsten Spurensuchen zum Nachspazieren niedergeschrieben..