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Lost Places
Lost Places Bayreuth: Wunderland Lost
Verfallene Orte, vergessene Ruinen – seit Jahren nimmt das Interesse an sogenannten “Lost Places” stetig zu. Insbesondere in der jungen Millennial-Generation ist ihr melancholisch-morbider Charme populär. Nur die wenigsten wissen jedoch, dass auch in unserem beschaulichen Bayreuth eine Vielzahl solcher verlassenen Stätten zu finden sind.
Unsere zweite Spurensuche führt uns diesmal ins Bayreuther Umland und in die etwas jüngere Vergangenheit. Hier bei Plech in der Fränkischen Schweiz liegt ein wundersamer Ort im Dornröschenschlaf, den viele von uns noch aus ihrer Kindheit kennen – das Fränkische Wunderland. Bei meinen damaligen Besuchen war ich noch klein und alles schien so groß, als ich heute jedoch auf den verlassenen Eingangsbereich zugehe, ist es genau umgekehrt. Alles wirkt jetzt so viel kleiner, zauberhaft auf Miniaturformat geschrumpft.
Wir passieren die verwaisten Kassen, an denen noch die früheren Preise ausgezeichnet sind, da erscheint links am Hang ein weiß geziegeltes Türmchen. Ich erinnere mich auf einmal: Hier hatte jedes meiner kindlichen Abenteuer seinen Anfang genommen, mit einem Sprung in das Loch die Rutsche hinab. Heute bin ich jedoch auch dafür zu groß gewachsen und der Kaninchenbau ist mittlerweile mit Brettern versperrt.
Melancholie im Märchenwald
Von hier aus führt uns nun eine vermooste Treppe weiter hinauf auf den bewaldeten Sandsteinberg, tief hinein in den Märchenwald. Gleich zu Beginn des Rundwegs ragt ein einsamer Turm aus der Böschung hervor, doch sein Balkon ist leer, Rapunzel und ihr langes Haar sind verschwunden. Auch über Schneewittchens Spiegelturm, den wir über zwei von Laub bedeckte Hängebrücken erreichen, liegt ein Schleier der Melancholie, in welchen der ganze Wald gehüllt ist. Selbst Rübezahl, der freundliche Riese, blickt traurig in die weite Ferne, während er auf seinem hohen Felsen über das Wunderland wacht.
Der weitere Weg führt uns an Dornröschens Schloss und Aschenputtels Hütte vorbei, bis wir auf dem Gipfelplateau auf eine magische Lichtung treffen. Hier entfaltet sich die einzigartige Atmosphäre dieses verwunschenen Felsengartens erst richtig: Die Herbstsonne illuminiert den gesamten Hain und erzeugt dabei einen intensiven Kontrast zwischen dem grünen Moos und dem rotbraunen Blätterteppich. Wenn wir hier oben stehen, an diesem fernen Ort, ausgebrochen aus Trott und Tristesse des Alltags, können wir für einen kurzen Augenblick wohl nachempfinden, was es heißt, aus allen Zwängen zu fliehen.
Eröffnet im Jahr 1976 stand diese postmoderne Märchenwelt damals für das Revival traditionellen Kulturguts, für das bunte Spiel historischer Identitäten, aber vor allem für das Eintauchen in die Wunder fremder Welten. Eine fantastische Reise für die Kinder und Erwachsenen der 70er und 80er Jahre, von märchenhafter Romantik bis hin zu tumbem Exotismus. Dieser Drang heraus aus monochromer Engstirnigkeit, das Streben in die zeitliche wie räumliche Ferne, all das ist hier noch lebendig, das freiheitliche Zeitgefühl ist konserviert in diesem Land der Wunder.
Doch als wir der zugewachsenen Rodelbahn zurück hinab ins Tal folgen, holen uns die Schatten des Verfalls schnell wieder ein. Hänsel und Gretels Lebkuchenhaus wurde aufgebrochen, die Tür herausgebrochen wie ein Kuchenstück und die böse Hexe starrt mich an, als ob ich der Übeltäter wäre. Auch weiter bergabwärts im Zwergenwald haben Eindringlinge gewütet und mehrere Schaukästen zerschlagen, gesplittertes Glas, gebrochene Balken – welch trauriger Ausklang des einst so prächtigen Fabelreichs.
Geisterstädte der Globalisierung
Vom exotischen Freiheitstraum scheinen nur Melancholie und Zerstörung übrig geblieben zu sein. Selbst der feuerspeiende Drache ist der Ödnis entflogen und lässt seinen Turm gänzlich eingewachsen zurück. Seine Ahnen, die Dinosaurier, haben ebenfalls schon bessere Tage gesehen, ihnen fehlen Rückenplatten, Arme oder Beine – einzig Tyrannosaurus Rex thront noch als einsamer König über dieses verlorene Paradies. Unser Wunderland ist jedoch nicht der einzige Freizeitpark, der in den letzten Jahrzehnten verlassen wurde. Weltweit teilen viele hunderte, wie der Spreepark in Berlin seit 2002 oder der einst größte Freizeitpark der Welt, Geauga Lake in Ohio seit 2007, das Schicksal von Niedergang und Verfall.
Je mehr sich die Globalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges beschleunigt hat, globale Handelsströme verlagert und ganze Regionen abgehängt wurden, desto deutlicher machte sich das letztlich auch in der lokalen Konsum- und Freizeitindustrie bemerkbar. Auf den ökonomischen Zusammenbruch folgte meist das Shoppingmall- und Freizeitparksterben. Auch die Digitalisierung mit ihren neuen virtuellen Spielwelten trug das ihrige hierzu bei. Der ehemalige Baggerspielplatz, dessen Sand heute überwuchert und von neuen Tannen durchsetzt ist, erscheint mir wie ein Symbol dieser Deindustrialisierung im Miniaturformat.
Wenn wir nun weiter durch die menschenleere Westernstadt streifen, vorbei an Saloon und Sherrifbüro, hin zum stillgelegten Bergwerk, dann durchqueren wir auch hier in Oberfranken eine buchstäbliche Geisterstadt der Globalisierung. Unser Wunderland ist ein lokales Sinnbild dieser globalen Entwicklung, eine Stätte des industriellen Verfalls, ja Zeuge eines tiefgreifenden Strukturwandels. Seine Attraktionen – Achterbahn, Kletterberg, Riesenrad – wurden demontiert und abtransportiert wie zuvor tausende Fabriken in den einstigen Industrierevieren, verpackt und verschifft an ferne Orte, von denen früher nur geträumt wurde.
Meine Gedanken kreisen um die vielen postindustriellen Wüstungen, ganze Landstriche, verödet und entvölkert, um zerfallende Städte wie Duisburg oder Detroit, um Wegzug und Leerstand, um Abbruch und Kollaps. Während wir hier in gespenstischer Stille über den sandigen Boden schreiten, zieht uns die düstere Seite der Lost Places in ihren Bann, wir sind mittendrin im Zerfall der Alten Ordnung.
Und wenn sie nicht gestorben sind…
Seit acht Jahren ist dieses Wunderland nun geschlossen, gezeichnet von Verfall und Vandalismus, zur Fotokulisse geworden für angemeldeten Besuch wie unseren, der dem Gefühl unserer Zeiten hier nachspürt. Erst nach Einstellung des Betriebs ist es zu einem wirklichen Denkmal unserer Epoche geworden – als postmoderne Fantasiewelt und Resonanzraum der Globalisierung trägt es die Signatur des Umbruchs in sich.
Und seine Wiedergeburt hat schon begonnen. Die Natur kennt keinen Stillstand, keine Nostalgie, sie erobert den Park zurück, überwächst seine Brüche, verschiebt die Pflaster und bahnt sich ihre Wege. Hier, wo früher das Whiskey Karussell stand, endet unsere Spurensuche. Hier breitet sich neues Leben aus und weist eine Zukunft jenseits von planieren oder konservieren.
Das Fränkische Wunderland muss sich transformieren, sich wieder synchronisieren mit dem Weltenlauf, Anschluss finden an die neue Zeit. Der Natur Raum geben und sich gleichsam digital vernetzen, dieses einmalige Kulturdenkmal erhalten und ihm ein neues Kapitel hinzufügen.
Die Entscheidung liegt nun in der Hand der Gemeinde, ein Signal zu setzen für eine nachhaltige Transformation, für die ganze Region und darüber hinaus. Auf dass zumindest dieses lokale Märchen ein Happy End nimmt und wir alle bald in das verlorene Paradies zurückkehren können.
Florian André Unterburger
Florian André Unterburger ist Autor und Historiker, im Rahmen seines Buchprojekts “Der Zerfall der Alten Ordnung” hat er seine Leidenschaft für Lost Places entdeckt. Regelmäßig forscht er neuen Spuren des Umbruchs nach. Für das Bayreuther Tagblatt hat er die aufregendsten Spurensuchen zum Nachspazieren niedergeschrieben..